Essstörungen bei Männern häufig unerkannt

Es sind nur Frauen, die an einer Essstörung leiden – ist das wirklich so? Denn auch Männer haben Symptome, die oft nur nicht wahrgenommen werden

Universitätsprofessor Dr. Georgios Paslakis, leitender Arzt für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie im Medizinischen Zentrum für Seelische Gesundheit am Krankenhaus in Lübbecke verfasste zusammen mit einem Team eine Forschungsarbeit zum Thema „Essstörungen bei Männern“, die bereits im Deutschen Ärzteblatt veröffentlicht wurde.

Essstörungen gab es schon immer. Früher wurde allerdings nur selten darüber gesprochen und es waren vor allem Frauen, die betroffen waren. Aber in Zeiten, wo meist unrealistische Schönheitsideale, Abnehmtipps sowie Modetrends für überwiegend sehr schlanke Menschen, vor allem über die sozialen Netzwerke kommuniziert werden, ist die Zahl der erkrankten Frauen wie auch Männer in den vergangenen Jahren höher als je zuvor. Ja, richtig – auch viele Männer sind mittlerweile betroffen und die Dunkelziffer ist hoch. „Wir haben das Thema für unsere medizinische Forschungsarbeit aufgegriffen, weil wir hinterfragt haben, warum wir in unseren Kliniken am häufigsten Frauen mit Essstörungen behandeln. Gibt es keine Jungen und Männer mit Essstörungen wie die Magersucht (Anorexia nervosa) und die Ess-Brech-Sucht (Bulimia nervosa)? Oder fehlt den männlichen Erkrankten einfach der Mut, offen darüber zu sprechen und den Weg in eine Behandlung zu finden?“, hinterfragt Universitätsprofessor Dr. Georgios Paslakis, leitender Arzt für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie im Medizinischen Zentrum für Seelische Gesundheit am Krankenhaus in Lübbecke.

Eine Zusammenfassung des aktuellen Stands der Forschung zu diesem Thema verfassten Professor Paslakis und sein Team in einer Forschungsarbeit, die im Deutschen Ärzteblatt veröffentlicht wurde. „Tatsächlich haben vereinzelte Männer mit essgestörtem Verhalten, die in unserer Klinik waren, erzählt, dass ihre Symptome von Ärztinnen und Ärzten nicht ernstgenommen wurden, im Gegenteil sie wurden sogar belächelt“, führt der Facharzt für Psychosomatische Medizin aus.

Die Ergebnisse ihrer Recherche zeigten, dass mittlerweile nahezu sogar jeder vierte Fall einer ist, wo eine Essstörung einen Mann betreffen könnte. Es bleibt die Frage: Wo sind die Männer in Behandlung? „Wir haben versucht, die Gründe für diese Kluft zwischen der tatsächlichen Häufigkeit von Männern mit Essstörungen einerseits und der Inanspruchnahme einer Behandlung durch Männer andererseits zu ermitteln. Unter anderem haben wir festgestellt, dass Männer nur ungern Hilfe in Anspruch nehmen, weil sie selbst Essstörungen als Erkrankungen betrachten, die nur Frauen betreffen. Die Herausforderung dabei ist, dass Männer nicht nur erkennen und akzeptieren müssen, dass sie eine psychische Erkrankung haben, sondern sich auch mit der Vorstellung abfinden, dass diese Störung eine vermeintliche "Frauenkrankheit" ist“, so Professor Paslakis.

In der Ausprägung der Kernsymptome einer Essstörung scheint es Unterschiede zwischen Männern und Frauen zu geben. Während Frauen häufiger erbrechen, um schlanker zu sein, streben Männer in der Regel eher einem muskulösen Körperideal nach. Die Vorstellung von „idealen“ männlichen Körpern (breite Schultern, schmale Taille, muskulöse Arme und Beine) üben großen Druck auf Jungen und Männer aus, Körperfett zu verlieren und Muskelmasse aufzubauen, was mit hoher Körperunzufriedenheit, und in der Folge essgestörtem Verhalten, einhergeht. Dies bedeutet aber nicht, dass alle Männer mit Essstörungen von Idealbildern von muskulösen Körpern getrieben werden, oder, dass keine Frauen nach einem muskulösen Körpertyp streben. „In einer eigenen Studie, in der wir die wichtigsten Symptome einer Essstörung bei Männern identifizieren wollten, fanden wir allerdings heraus, dass die Sorge um die Muskeln tatsächlich wichtig für die Identifizierung von Essstörungen bei Männern ist“, erklärt der Facharzt. Bisher wurde dieser Aspekt in den derzeitigen Diagnoseinstrumenten, beispielsweise Fragebögen zur Erfassung von Essstörungen, nicht berücksichtigt worden, da die Fragebögen eher für Frauen entwickelt wurden. „Das ändern wir derzeit und entwickeln einen neuen Fragebogen, der auch bei Männern gut angewendet werden kann“, ergänzt er.

Eine Früherkennung ist wichtig, um zu verhindern, dass eine Essstörung zum dauerhaften Problem wird und „chronifiziert“. „Wir wissen, dass die Behandlung von Essstörungen umso schwieriger wird, je länger die Essstörung unbehandelt besteht“, so Professor Paslakis. Hausärztinnen und Hausärzte spielen in der Früherkennung deshalb eine wichtige Rolle, da sie meist die erste Anlaufstelle für Patientinnen und Patienten sind. Sie sollten in der Lage sein, Warnsignale für essgestörtes Verhalten zu erkennen und diese in einer offenen, wertfreien und akzeptierenden Atmosphäre offen anzusprechen. Jungen und Männer haben die Erkrankung häufig selbst noch nicht erkannt oder gehen aus Scham und Angst nicht offen damit um. In der hausärztlichen Praxis schildern die männlichen Patienten zunächst unspezifische Beschwerden wie Magen-Darm-Beschwerden, Müdigkeit, Konzentrationsstörungen, depressive Stimmung, sozialen Rückzug, Schwindel oder Ähnliches. Deutlichere Hinweise auf essgestörtes Verhalten sind Befunde wie Blutbild- und Blutsalzveränderungen oder Gewichtsschwankungen. Obwohl Gewicht und Body-Mass-Index (BMI) wichtige Maße sind, sind sie insbesondere bei Männern unzuverlässig für die Diagnose einer Essstörung, da Männer meist eine ausgeprägtere Muskulatur (und somit ein normales Gewicht und einen normalen BMI) haben. Bei Männern mit Essstörungen ist es zudem wahrscheinlicher, dass sie exzessives Krafttraining betreiben und/oder Nahrungsergänzungsmittel, einschließlich anaboler Steroide („Anabolika“), einnehmen. Das Team der Facharbeit führte aus, dass Männer oft strenge Essenspläne befolgen, die auf einer hohen Proteinzufuhr basieren, um das Muskelvolumen zu vergrößern, gefolgt von Perioden der Nahrungseinschränkung oder sogar des Fastens, um Körperfett zu reduzieren. Entsprechend zeigen Jungen und Männer deutlich häufiger als Mädchen und Frauen Symptome der sogenannten „Muskeldysmorphie“; diese ist gekennzeichnet durch die Sorge, nicht muskulös genug zu sein oder die Angst, Muskelmasse zu verlieren, selbst bei Personen, die objektiv gesehen muskulös sind.

Bei der Behandlung von essgestörten Männern gibt es bisher noch keine genauen Angaben dazu, wie genau diese behandelt werden und ob diese der Behandlung von Frauen ähneln sollte. „Wenn Männer allerdings den Weg zu einer spezifischen Behandlung gefunden haben, zeigen sie häufig günstigere Therapieergebnisse als Frauen, zumindest Studienergebnissen unserer Arbeitsgruppe zufolge“, so Professor Paslakis. Häufig besteht die größte Herausforderung darin, dass betroffene Männer in einer Psychotherapie offen über ihre Gefühle sprechen, um so ihre Symptome und die Gründe tiefer erforschen zu können. Die Art und Weise, wie Männer aufwachsen und wie sie lernen, mit ihren Problemen, Gedanken und Gefühlen durchs Leben zu gehen (ihre sogenannte „männliche Sozialisation“) stehen ihnen oft im Weg. „Es ist wichtig, dass wir als professionelle Personen regelmäßig nach Essstörungen bei Männern fragen und nach Wegen suchen, um die Bereitschaft der Männer zu erhöhen, sich in Behandlung zu begeben“, weiß der Experte.

„Um die hausärztlichen Praxen mehr für dieses Thema zu sensibilisieren, wurde unsere Arbeitsgruppe an der Ruhr-Universität Bochum am Medizin Campus OWL in Lübbecke vom Bundesministerium für Gesundheit gefördert, um eine Fortbildung zum Thema „Männer mit Essstörungen“ für Hausärztinnen und Hausärzte zu entwickeln“, sagt Professor Paslakis.

Mehr Informationen zum Thema für Fachpersonal (z.B. Ärztinnen und Ärzte), aber auch betroffene Männer und deren Angehörige finden Sie unter www.maennermitessstoerung.ruhr-uni-bochum.de/projekt-ismesh/

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